Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten
Die Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten und dem östlichen Europa während und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges betraf 12 bis 14 Millionen Menschen. Es handelte sich dabei um Deutsche, die bis dahin in den Ostgebieten des Deutschen Reiches – Schlesien, Pommern und Ostpreußen – lebten sowie um deutschsprachige Bewohner des östlichen Europas. Die Flucht und Vertreibung war unmittelbare Folge der nationalsozialistischen Angriffskriege, Gewaltherrschaft und Kriegsverbrechen.
Bereits ab Herbst 1944 flüchteten zahlreiche Menschen auf Trecks, mit Pferdefuhrwerken und Schiffen vor der heranrückenden Roten Armee. Mit der Kapitulation Nazideutschlands und dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 stellte sich für die alliierten Siegermächte die Frage nach der Gestaltung der Zukunft. Im Sommer 1945 konferierten sie in Potsdam und beschlossen eine politische und territoriale Neuordnung Europas. Die Ostgebiete Schlesien, Pommern und Ostpreußen wurden Polen bzw. der Sowjetunion zugesprochen.
In der Folge wurde die dort lebende deutsche Restbevölkerung in die neu gebildeten alliierten Besatzungszonen ausgewiesen. Allein im Rahmen der sogenannten „Aktion Schwalbe“ wurden ab Februar 1946 rund 1,4 Millionen Menschen aus ihrer schlesischen Heimat vertrieben und in der britischen Besatzungszone angesiedelt. Bei der Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten handelt es sich um die zahlenmäßig größte Zwangsmigration im 20. Jahrhundert.
Ankunft und Weiterverteilung – Joachim Strybny erinnert sich
Joachim Strybny wird am 6. Juni 1937 in der niederschlesischen Stadt Glatz (heute Kłodzko in Polen) geboren. Die Zeit seiner behüteten Kindheit währte nur kurz. Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg entschieden die alliierten Siegermächte in Potsdam die politische und territoriale Neuordnung Deutschlands. Von den Ergebnissen war die Familie Strybny direkt betroffen. Im Januar 1946 wurde sie aus ihrer schlesischen Heimat ausgewiesen. 13 Tage lang war die Familie gemeinsam mit etwa 1000 weiteren Vertriebenen in einem Güterzug unterwegs. Ziel unbekannt. Kälte, Plünderungen und eine ungewisse Zukunft waren ihre ständigen Begleiter. Anfang Februar 1946 erreichte sie Aurich. Joachim Strybny, damals 9 Jahre alt, erinnert sich.
Baracken- und Notunterkünfte
Private Einquartierungen der Flüchtlinge und Vertriebenen waren aufgrund von Platzmangel nicht immer möglich. Die Bilderserie zeigt Notunterkünfte für Flüchtlinge, Vertriebene und Ausgebombte im Altkreis Norden. Es handelt sich um Schuppen, Keller, Nissenhütten, Stallgebäude und Baracken.















Das Flüchtlings- und Vertriebenenlager Tidofeld
Die ersten Flüchtlinge trafen bereits Ende des Jahres 1944 in Ostfriesland ein. Die meisten von ihnen waren in Trecks vor der Front geflüchtet und später mit Zügen bis in den Nordwesten des Deutschen Reiches gelangt. Die noch im nationalsozialistischen Sinne amtierenden Verwaltungen quartierten diese Menschen privat ein.
Die Haus- und Wohnungsbesitzer hatten keine Wahl, wie in einem Schreiben der Stadt Norden deutlich wurde:
„Durch die zeitigen Verhältnisse im Osten bedingt, wird nach einem Erlaß des Reichsministers des Innern auch der Gau Weser-Ems in verstärktem Maße zur Unterbringung von Familien, die ihre Wohnung in den feindbedrohten Ostgebieten verlassen mussten, herangezogen. Die Stadt Norden ist heute bereits eine große Anzahl dieser Familien zugewiesen worden. Es ist nach einer mir bekannt gewordenen Mitteilung damit zu rechnen, dass alle im Stadtgebiet Norden nur irgendwie verfügbaren Räume in Anspruch genommen werden müssen. Auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars Weser-Ems hat daher eine Belegung auf engstem Raum zu erfolgen. Ich muss Ihnen daher die Familie (Name), bestehend aus (Anzahl Familienmitglieder) zur Unterbringung in Ihren Räumen mit Küchenbenutzung zuweisen. Eine förmliche Beschlagnahme erfolgt nicht. Die Ihnen zugewiesenen Personen müssen Sie unter allen Umständen aufnehmen. Zurückweisungen können auf keinen Fall zugelassen werden. Beschwerden sind vollkommen zwecklos. In Vertretung Vize Bürgermeister Janßen“
Zusätzlich war die Stadt Norden damit herausgefordert Ausgebombte, insbesondere aus der Seekriegshafenstadt Emden, aufzunehmen.
Nach Kriegsende, ab dem Frühjahr 1946, erreichten Vertriebenenzüge in großer Zahl Ostfriesland. Allein im März 1946 erreichten zwei größere Vertriebenentransporte mit insgesamt 755 Personen Norden.
Die Behörden waren mit der Einquartierung all dieser Menschen insbesondere aus Schlesien aber auch aus Pommern schier überfordert. Die Alliierten Besatzungsmächte planten, die Vertriebenen privat einzuquartieren, um den Fortbestand alter Dorfgemeinschaften zu verhindern und von vorneherein eine dezentrale Verteilung der Menschen zu gewährleisten. Dies war jedoch an vielen Orten bedingt durch Wohnraummangel technisch nicht möglich. So auch in Norden.
Johann Haddinga, der sich im Zuge zahlreicher Buchpublikationen intensiv mit der Geschichte Ostfrieslands und Nordens beschäftigt hat, gibt Auskunft:
Diese Schilderungen bestätigt auch die Zeitzeugin Sylvia Frost, geb. Sie erinnert sich an ihre Ankunft in Tidofeld:
Bis Mitte April 1946 waren etwa 400 Personen in Tidofeld untergebracht, die Zahl stieg in den Folgemonaten auf 1.200. Insgesamt stieg die Einwohnerzahl Nordens bedingt durch Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene innerhalb von zehn Jahren um mehr als 7.500 Personen, von 12.300 Einwohnern im Jahr 1939 auf knapp 18.000 Personen im Jahr 1949.