Die Aufnahme und Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen gilt rückblickend als Erfolg. Doch ein genauer Blick auf ihre Integrationsgeschichte zeigt auch eine andere Seite: Den materiellen Ausgleichsversuchen durch die Bundesrepublik Deutschland und persönlichen Chancen, die sich insbesondere durch das Wirtschaftswunder boten, stehen vielfach Traumatisierungen sowie Ablehnung und Ausgrenzungserfahrungen entgegen. Dies war ein Mitgrund dafür, dass viele Flüchtlinge und Vertriebene unter sich blieben.
Als das Land Niedersachsen 1958 ein weiteres Barackenräumungsprogramm beschlossen hatte, standen viele Bewohner des Vertriebenenlagers für ihren Verbleib in dem entstehenden Stadtteil ein. Mit Erfolg – bis 1962 entstanden auf dem Gelände des Lagers 111 Siedlungshäuser. 1968 wurde die letzte Baracke abgerissen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt endete äußerlich gesehen die Geschichte des Vertriebenenlagers Tidofeld.

Vom Barackenräumungsprogramm zum Siedlungsbau
Auch wenn das Land Niedersachsen bereits Anfang der 1950er Jahre Barackenräumungsprogramme beschloss, den sozialen Wohnungsbau förderte und eine Reihe an Wohnungsbauprogrammen erließ, lebten Ende der 1950er Jahre allerorten noch Vertriebene in Baracken und Behelfsheimen. In den Ländern der alten Bundesrepublik waren es mehr als 150.000 Menschen, davon 75 % in Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Gegen Ende der 1950er Jahre bestanden Flüchtlingslager meist nur noch an Orten, wo es wenige Arbeitsplätze und geringe Integrationsmöglichkeiten in die dörfliche Gemeinschaft gab. Dies traf auch für Ostfriesland und in besonderem Maße für das größte Vertriebenenlager Niedersachsens in Tidofeld zu.
Doch trotz starker Eigenheimförderung im niedersächsischen Flüchtlingswohnungsbau wurden die wenigsten Bewohner:innen großer Flüchtlingslager auf den ehemaligen Lagergeländen angesiedelt. Der Bau einer so großen Siedlung wie in Tidofeld, fern von Arbeitsmöglichkeiten, passte nicht in das Programm der niedersächsischen Landesregierung. Das Programm zielte in der Regel darauf ab, kleine Nebenerwerbssiedlungen, deren Besitzer den umliegenden großen Landwirten bei der Saisonarbeit helfen sollten, oder Siedlungsbauten in der Nähe von industriellen Arbeitsmöglichkeiten zu verwirklichen.
Doch für die entstehende Siedlung wirkte sich günstig aus, dass die Stadt Norden von Beginn an mit der Trägerschaft des Lagers betraut war. Außerdem hatte das Land Niedersachsen das ursprünglich zur Gemeinde Lütetsburg zählende Gebiet bereits 1952 zum Ortsteil von Norden erklärt. Die kommunalen Träger der Siedlungsvorhaben hatten großen Einfluss auf die Gestaltung der Barackenräumungsprogramme.
Zudem kam es den Tidofelder:innen zugute, dass sie für den Stadtflüchtlingsrat und den Stadtrat Vertreter der CDU und SPD gewählt hatten. So erhielten bei den Kommunalwahlen 1952 die Kandidaten der SPD und der Wählergemeinschaft FDP, CDU und Deutscher Partei jeweils mehr Stimmen als die Flüchtlingspartei Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Auch in den folgenden Jahren blieb der Anteil der Stimmen für den BHE bei den Kommunalwahlen gering. Tidofeld zeichnete sich außerdem dadurch aus, dass die Wahlbeteiligung hier deutlich höher lag als in den anderen Wahlbezirken der Stadt. Dies kann als Zeichen für das besondere Engagement der Tidofelder:innen für ihr Einleben in eine demokratische Gesellschaft gedeutet werden und kam ihnen auch bei der Durchsetzung der Siedlungspläne insofern zugute, als sie in die politische Willensbildung im Norder Stadtrat eng eingebunden waren.
Die Grundlage für den gemeinsamen Siedlungsbau war also der gemeinsame Beschluss der Lagerbewohner:innen mehrheitlich in Tidofeld bleiben zu wollen. Dies wirft eine neues Licht auf das Leben in Flüchtlingslagern: Das Vertriebenenlager Tidofeld wurde den Erinnerungen nach nicht als menschenunwürdige Notunterkunft erlebt, sondern im Gegenteil, als bessere Unterkunft empfunden als eine private Einquartierung, da das Lagerleben die Chance bot, sich über gegenseitige Hilfe unter Schicksalsgenoss:innen und eine gemeinsame Interessenvertretung gegenüber der einheimischen Bevölkerung und der Verwaltung eine sichere Lebensgrundlage zu verschaffen.
Die Entwicklung zum Stadtteil
Der Ostfriesische Kurier berichtete ausgiebig über die Entwicklung Tidofelds zum Ortsteil, wie aus dieser kleinen Presseschau von Artikeln aus den Jahren 1961 und 1962 deutlich wird.
Postkarte aus Tidofeld
Die erste erhältliche Postkarte des entstandenen Ortsteils Tidofeld präsentiert moderne Mehrfamilienhäuser, das neue Ladenlokal der Fleischerei Siwek, die 1961 eingeweihte evangelisch-lutherische Gnadenkirche Tidofeld und dass noch aus der Zeit des Marinelagers stammende H-Gebäude, in der nun neben der Schule die Lingener Wäschefabrik untergebracht war.
Der allgemeine und allgegenwärtige Aufstiegsglaube der 1960er Jahre hat sich mehr als 15 Jahre nach Flucht und Vertreibung auch auf viele Betroffene niedergeschlagen. Im Text der Postkarte aus dem Jahr 1964 heißt es unter anderem: „Uns geht es sehr gut hier (…) Udo hat wieder einen anderen Wagen. (…)“