Das Vertriebenlager Tidofeld

Das Barackenlager Tidofeld wurde im Frühjahr 1946 von der Stadt Norden in Betrieb genommen. Bis 1961 hatten mehr als 6.000 Flüchtlinge und Vertriebene das Lager durchlaufen. Während in den ersten Jahren prekäre Wohnverhältnisse und ein Ringen um die Sicherstellung der Grundbedürfnisse den Lageralltag prägten, trug in späteren Jahren die bemerkenswerte Eigeninitiative vieler Lagerbewohner Früchte: Zahlreiche Wirtschaftsbetriebe waren entstanden. Vereine, Initiativen und die Lagergaststätte „Zum Onkel Pitt“ sicherten einen gesellschaftlichen Austausch. Darüber hinaus bot die Lagerkirche zahlreichen Bewohnern eine spirituelle Heimat. All dies waren Gründe dafür, dass sich im Laufe der Zeit das Barackenlager für viele seiner Bewohner zu einem positiven Bezugspunkt entwickelte. Daher traten sie Ende der 1950er Jahre geschlossen für ihren Verbleib in dem entstehenden Stadtteil ein. 

Eigeninitiative als Wirtschaftsmotor

28 Baracken ohne Privatsphäre, drei feststehende Gebäude, Latrinen und zentrale Wasserzapfstellen. Essensmarken, keine Einkaufs- und kaum Verdienstmöglichkeiten. Die Startbedingungen für die ersten Flüchtlinge und Vertriebenen im Lager Tidofeld waren denkbar schlecht. Hinzu kamen in vielen Fällen Traumatisierungen und physische Folgen des Krieges, der Flucht und Vertreibung. Trennungen von Familien und Freunden, verlorener Besitz und eine unwiederbringliche Heimat. In der neuen Umgebung wiederum oftmals Ablehnung, Anfeindungen und ein diffuses Gefühl des nicht Willkommen seins.

Doch wie konnte ein Flüchtlingslager am Stadtrand, das oftmals als Schandfleck bezeichnet wurde, im Laufe der Zeit zu einem positiven Bezugspunkt für viele seiner Bewohner:innen werden?

Wichtig für die Entwicklung des Vertriebenenlagers waren Ansätze zur Selbstverwaltung, insbesondere in Bezug auf die Interessensvertretung gegenüber der Stadt Norden. Die Stadt hatte bereits vor Eintreffen der ersten Vertriebenen den sog. Tidofeld-Ausschuss gegründet. Schon bald wurde der Lagerausschuss, mit je einer gewählten Vertrauensperson pro Baracke, zu den Sitzungen des Tidofeld-Ausschusses hinzu geladen. Im später gegründeten Stadtflüchtlingsrat war dann auch der 1902 in Stettin geborene Tidofelder Johannes Saeger Vorsitzender.

Über den Weg der Politik wurden im Vertriebenenlager Geschäftsgründungen möglich. Im Dezember 1948 eröffnete der in Breslau geborene Heinrich Siwek ein Fleisch- und Wurstwarengeschäft, das sich schnell über die Lagergrenzen hinaus großer Beliebtheit erfreute, stetig vergrößert wurde und zum Ausbildungsbetrieb heranwuchs. Weitere Lebensmittelgeschäfte wie die Bäckerei Pludra oder der Gemüsehandel Klimmek entstanden. Ein Schuhmachermeister aus Breslau, Paul Remek, nahm seine Arbeit zunächst in den privaten Barackenräumen auf und wurde zum Ausbildungsbetrieb. Eine Drahtzaunfabrik entstand ebenso wie die Tanzgaststätte „Zum Onkel Pitt“. In diesen Räumlichkeiten waren fortan auch gesellschaftliche und soziale Zusammenkünfte möglich: Die Lagerfeuerwehr gründete sich, Sportmannschaften trafen sich und ein Jazzkeller für die Jugend folgte.

Im Laufe der Jahre entstanden knapp 30 Betriebe und das Vertriebenenlager Tidofeld wurde auch für Menschen von außerhalb interessant: Ob als Raum für Flüchtlinge und Vertriebene, die sich dort verstanden fühlten oder als Einkaufsmöglichkeit bzw. um qualitativ hochwertige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

Die Vorraussetzungen waren Schlecht, aber die Vertriebenen waren fleißig. Auf dem Bild eine Vertriebene beim Holzsammeln.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Kinder im Lager

Die Bilderserie zeigt eine andere – nur selten beachtete – Seite des Vertriebenenlagers. In Tidofeld gab es zahlreiche Kinder, doch es mangelte an Spielgeräten und Freizeitangeboten, sodass die Baracken, Ruinen und die nähere Umgebung den Kindern als Spielplatz diente. Mit Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten wurde zudem das Schulsystem auf die Probe gestellt. In dem ehemaligen Kasernengebäude, dem sogenannten H-Gebäude, wurden daher bereits im Sommer 1946 die ersten Klassenräume eingerichtet. Zunächst unterrichteten zwei Lehrer drei Klassen. Die insgesamt 136 Kinder stammten aus Pommern, Ostpreußen, Niederschlesien, Oberschlesien, dem Sudetenland und Brandenburg. Einige, wenige Kinder ausgebombter Familien aus Ostfriesland besuchten ebenso die Lagerschule. Ab Frühjahr 1947 befand sich im H-Gebäude zusätzlich ein Kindergarten.

Migration als Dauerzustand

Für die Flüchtlinge und Vertriebene blieb Migration auch nach dem erzwungenen Verlassen ihrer Heimat ein Dauerzustand. Fortwährend kamen neue Menschen ins Lager. Aber auch der Wegzug spielte eine große Rolle. Dies hatte verschiedene Gründe: