Das Barackenlager Tidofeld wurde im Frühjahr 1946 von der Stadt Norden in Betrieb genommen. Bis 1961 hatten mehr als 6.000 Flüchtlinge und Vertriebene das Lager durchlaufen. Während in den ersten Jahren prekäre Wohnverhältnisse und ein Ringen um die Sicherstellung der Grundbedürfnisse den Lageralltag prägten, trug in späteren Jahren die bemerkenswerte Eigeninitiative vieler Lagerbewohner Früchte: Zahlreiche Wirtschaftsbetriebe waren entstanden. Vereine, Initiativen und die Lagergaststätte „Zum Onkel Pitt“ sicherten einen gesellschaftlichen Austausch. Darüber hinaus bot die Lagerkirche zahlreichen Bewohnern eine spirituelle Heimat. All dies waren Gründe dafür, dass sich im Laufe der Zeit das Barackenlager für viele seiner Bewohner zu einem positiven Bezugspunkt entwickelte. Daher traten sie Ende der 1950er Jahre geschlossen für ihren Verbleib in dem entstehenden Stadtteil ein.

Die Not- und Barackenkirche Tidofeld
Im Lager Tidofeld trafen Flüchtlinge und Vertriebene verschiedener Konfessionen aufeinander. Eine kirchliche Betreuung am Ort war nicht nur sofortiger und expliziter Wunsch der Lagerbewohner, sondern auch aufgrund der Entfernungen zu den Kirchen in Norden und Hage unerlässlich. Die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Norden ergriff bereits 1946 die Initiative und richtete im Lager die ersten Gottesdienste und Adventsstunden aus.
Zu diesem Zweck wurde in Baracke 2 ein Raum eingerichtet, der fortan mehr als nur einen notkirchlichen Charakter tragen sollte. Die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Norden, die katholische Kirchengemeinde St. Ludgerus sowie die evangelisch-freikirchliche Gemeinden – die Baptisten – unterstützen diese Pläne. Die Stadt Norden gab den Raum 1948 als Kirchenraum frei und die Vertriebenengemeinschaft richtete ihn in Eigeninitiative her: Auf 58 Quadratmetern fanden 18 Bänke, 20 Stühle, ein Harmonium, Altar sowie ein zusätzlicher Seitenaltar mit Christusfigur für die Katholiken Platz. Fortan regelte ein Plan die Nutzungszeiten des Gotteshauses durch die verschiedenen Religionsgemeinschaften.
Als der lutherische Landesbischof Hanns Lilje 1950 in Norden zu Gast war, besuchte er auch das Vertriebenenlager Tidofeld. Die Bewohner trugen ihm den Wunsch nach einer Glocke vor und der Landesbischof sagte seine Unterstützung zu. Am 13. Oktober 1951 war es soweit: Der Bochumer Verein, ein bekanntes Gusswerk, stiftete die Glocke, die in einer feierlichen Prozession vom Norder Bahnhof ins Lager überführt wurde. Am 21. Oktober 1951 fand unter freiem Himmel die von einem lutherischen und einem katholischen Gottesdienst umrahmte Glockenweihe statt.
Gedicht: Unser Kirchlein Tidofeld

Du armes Kirchlein Tidofeld,
aus Bretterwänden hergestellt,
bist Spiegelbild der Flüchtlingswelt.
Du freundlich Kirchlein Tidofeld,
wenn Gottes Sonne dich erhellt.
Du liebes Kirchlein Tidofeld,
wie hören wir in dir so gern,
die Worte Gottes, unseres Herrn.
Nicht in Ludgeris düstrer Pracht,
sie wurde nicht für uns erdacht,
uns lockt nicht Schnitger-Orgelbraus,
es ist Ostfriesen Gotteshaus,
und lieben sie`s, so ist es recht,
es kam und ging ja ihr Geschlecht.
Doch unser Stolz kann dies nicht sein,
wer fragt nach unsren Ahnenreih`n,
wo uns der Glaube ward gelehrt,
der Heimat Kirchen sind zerstört.
Doch ist dies noch nicht Leid genug:
Die Gräber ebnete der Pflug.
Wer kann ermessen unseren Schmerz,
trägt er nicht selbst ein Flüchtlingsherz.
Drum danken wir dem Herrn der Welt,
der Sie zum Hirten uns bestellt.
Wenn Sie uns künden Gottes Wort,
in Tidofeld, ist Heimat dort.
Drum frag ich nicht mehr nach dem Wie,
ob alt, ob neu die Liturgie,
bleibt uns das Kirchlein nur – und Sie!
Anlässlich der Einweihung der Tidofelder Barackenkirche am 8. August 1948 trug der Lagerbewohner Franz Wiegert ein selbstverfasstes Gedicht mit dem Titel „Unser Kirchlein Tidofeld“ vor. Das Gedicht, in dem er direkt den lutherischen Pastor der Notkirche anspricht, kreist um den Begriff Heimat. Dabei wird Heimat ebenso als irdischer Ort wie in Bezug auf den Glaube an Gott gedacht.
Besonders hervorzuheben ist die konkrete Bezugnahme auf die größte mittelalterliche Kirche Ostfrieslands, die Norder Ludgerikirche mit ihrer berühmtem Arp Schnitger-Orgel. Immer wieder wird auch das Bewusstsein der Tidofelder als autonome Schicksalsgemeinschaft deutlich. Zum Ende des Gedichts wird im Ausklammern der liturgischen Differenzen gar der gesteigerte Zusammenhalt versinnbildlicht.
Die Erfindung der Ökumene in Tidofeld
Wurde die Ökumene im Lager Tidofeld erfunden? Diese Frage beantworten wir in unserem Podcast, durch die Erinnerungen von Vertriebenen an das kirchliche Zusammenleben in Ostfriesland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Von Prof. Bernhard Parisius
Eigeninitiative als Wirtschaftsmotor
28 Baracken ohne Privatsphäre, drei feststehende Gebäude, Latrinen und zentrale Wasserzapfstellen. Essensmarken, keine Einkaufs- und kaum Verdienstmöglichkeiten. Die Startbedingungen für die ersten Flüchtlinge und Vertriebenen im Lager Tidofeld waren denkbar schlecht. Hinzu kamen in vielen Fällen Traumatisierungen und physische Folgen des Krieges, der Flucht und Vertreibung. Trennungen von Familien und Freunden, verlorener Besitz und eine unwiederbringliche Heimat. In der neuen Umgebung wiederum oftmals Ablehnung, Anfeindungen und ein diffuses Gefühl des nicht Willkommen seins.
Doch wie konnte ein Flüchtlingslager am Stadtrand, das oftmals als Schandfleck bezeichnet wurde, im Laufe der Zeit zu einem positiven Bezugspunkt für viele seiner Bewohner:innen werden?
Wichtig für die Entwicklung des Vertriebenenlagers waren Ansätze zur Selbstverwaltung, insbesondere in Bezug auf die Interessensvertretung gegenüber der Stadt Norden. Die Stadt hatte bereits vor Eintreffen der ersten Vertriebenen den sog. Tidofeld-Ausschuss gegründet. Schon bald wurde der Lagerausschuss, mit je einer gewählten Vertrauensperson pro Baracke, zu den Sitzungen des Tidofeld-Ausschusses hinzu geladen. Im später gegründeten Stadtflüchtlingsrat war dann auch der 1902 in Stettin geborene Tidofelder Johannes Saeger Vorsitzender.
Über den Weg der Politik wurden im Vertriebenenlager Geschäftsgründungen möglich. Im Dezember 1948 eröffnete der in Breslau geborene Heinrich Siwek ein Fleisch- und Wurstwarengeschäft, das sich schnell über die Lagergrenzen hinaus großer Beliebtheit erfreute, stetig vergrößert wurde und zum Ausbildungsbetrieb heranwuchs. Weitere Lebensmittelgeschäfte wie die Bäckerei Pludra oder der Gemüsehandel Klimmek entstanden. Ein Schuhmachermeister aus Breslau, Paul Remek, nahm seine Arbeit zunächst in den privaten Barackenräumen auf und wurde zum Ausbildungsbetrieb. Eine Drahtzaunfabrik entstand ebenso wie die Tanzgaststätte „Zum Onkel Pitt“. In diesen Räumlichkeiten waren fortan auch gesellschaftliche und soziale Zusammenkünfte möglich: Die Lagerfeuerwehr gründete sich, Sportmannschaften trafen sich und ein Jazzkeller für die Jugend folgte.
Im Laufe der Jahre entstanden knapp 30 Betriebe und das Vertriebenenlager Tidofeld wurde auch für Menschen von außerhalb interessant: Ob als Raum für Flüchtlinge und Vertriebene, die sich dort verstanden fühlten oder als Einkaufsmöglichkeit bzw. um qualitativ hochwertige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
Tidofeld wird Ortsteil von Norden
Ursprünglich lag das Vertriebenenlager Tidofeld auf dem Gebiet der Gemeinde Lütetsburg. Die Gemeinde Lütetsburg stimmte der Unterbringung der Vertriebenen in dem ehemaligen Marinelager nicht zu, mehr noch, sie warf der Stadt Norden vor, das Lager mit Vertriebenen zu belegen, die sie auf stadteigenem Gebiet hätte unterbringen müssen. Erst im September 1952 wurden durch einen Erlass der Niedersächsischen Landesregierung Fakten geschaffen: Tidofeld wurde offiziell Ortsteil der Stadt Norden. Diese Entscheidung war im Hinblick auf die Aufteilung der Wahlbezirke von grundlegender Bedeutung: Bei den folgenden Kommunalwahlen hätten ansonsten die Bewohner:innen Tidofelds entscheidend über die Zusammensetzung des Lütetsburger Gemeinderats entschieden. Die begleitenden Artikel aus dem Ostfriesischen Kurier geben einen ausführlichen Einblick in die damalige Debatte.
Kinder im Lager








Die Bilderserie zeigt eine andere – nur selten beachtete – Seite des Vertriebenenlagers. In Tidofeld gab es zahlreiche Kinder, doch es mangelte an Spielgeräten und Freizeitangeboten, sodass die Baracken, Ruinen und die nähere Umgebung den Kindern als Spielplatz diente. Mit Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten wurde zudem das Schulsystem auf die Probe gestellt. In dem ehemaligen Kasernengebäude, dem sogenannten H-Gebäude, wurden daher bereits im Sommer 1946 die ersten Klassenräume eingerichtet. Zunächst unterrichteten zwei Lehrer drei Klassen. Die insgesamt 136 Kinder stammten aus Pommern, Ostpreußen, Niederschlesien, Oberschlesien, dem Sudetenland und Brandenburg. Einige, wenige Kinder ausgebombter Familien aus Ostfriesland besuchten ebenso die Lagerschule. Ab Frühjahr 1947 befand sich im H-Gebäude zusätzlich ein Kindergarten.
Onkel Pitt








Der gebürtige Rheinländer August Breininger, besser bekannt unter dem Spitznamen Onkel Pitt, blieb nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft in Ostfriesland. Im Vertriebenenlager Tidofeld arbeitete er in seinem erlernten Beruf als Friseur. Später eröffnete er die weit über die Lagergrenzen hinaus bekannte „Tanzgaststätte Zum Onkel Pitt“. Schnell wurde die Kneipe zum Lagermittelpunkt für gesellige Zusammenkünfte, Vereine und Initiativen.
Besonders lagen Onkel Pitt die Kinder im Lager am Herzen: Für sie veranstaltete er regelmäßig Feste. Einmal im Jahr mimte er den Nikolaus. Die Bäckerei Pludra stellte aus 99 Pfund Maismehl, Gries, Sirup und Haferflocken „Berliner Möppchen“ her, die Onkel Pitt verkleidet an die Kinder verteilte.
Migration als Dauerzustand
Für die Flüchtlinge und Vertriebene blieb Migration auch nach dem erzwungenen Verlassen ihrer Heimat ein Dauerzustand. Fortwährend kamen neue Menschen ins Lager. Aber auch der Wegzug spielte eine große Rolle. Dies hatte verschiedene Gründe:
Max Ludwig
1948 erreichte Max Ludwig nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft in Ägypten mit diesem Holzkoffer das Vertriebenenlager Tidofeld. Dort traf er seine Frau und die beiden Söhne wieder, die 1946 aus Langenbrück in Oberschlesien (seit 1945: Moszczanka/ Polen) von den polnischen Behörden ausgewiesen wurden. Wie Max Ludwig kamen bis Anfang der 1950er Jahre zahlreiche ehemalige Wehrmachtsoldaten nach Tidofeld. Sie wurden aus der Kriegsgefangenschaft zu ihren Familien entlassen und sahen ihre Heimat niemals wieder.
Helga Walter
Die 1934 in Norden geborene Helga Walter heiratete im Alter von 20 Jahren einen Vertriebenen aus Rengsersdorf in Niederschlesien und zog zu ihm in das Barackenlager. Im lebensgeschichtlichen Interview mit Bernhard Parisius antwortete sie auf die Frage, ob es ein Problem gewesen sei in das Barackenlager zu ziehen: „Nein. Ich konnte bloß erst meine Schwiegermutter nicht verstehen, weil die Schlesisch sprach. (…) Wenn ich dann mal was nicht verstanden habe, und mein Mann abends nach Hause kam, dann habe ich ihn einfach gefragt.“
Harald Hauptvogel
Harald Hauptvogel wurde 1930 im böhmischen Rothauges geboren. 1946 wurde die Familie vertrieben und kam nach Tidofeld. Harald und sein Vater fanden als Maurer zunächst Arbeit beim Stadtbauamt Norden. Im Zuge der Währungsreform verlor Harald Hauptvogel seinen Arbeitsplatz und zog zunächst nach Bentheim und anschließend nach Bonn, wo er beim Bau des Bundehauses beschäftigt war. 1960 kehrte er – inzwischen verheiratet – mit seiner Frau nach Tidofeld zurück, wo er ein Grundstück erwarb und ein Eigenheim baute. In Norden machte er sich erfolgreich als Versicherungsvertreter mit einer eigenen Filiale selbstständig.